Andrei Hâncu: Unboxing
16. – 26. September 2021
Eine Klaviatur, die statt von links nach rechts im Kreis verläuft, so dass niemand darauf spielen kann. Ein Sprungturm, dessen Leiter nur am oberen Ende Sprossen trägt, so dass niemand ihn besteigen kann. Ein gedeckter Tisch mit einem Stuhl, auf dem niemand sitzt: Immer fehlt etwas in der eigenartigen Bildwelt von Andrei Hâncu und dieses Etwas beraubt die dargestellten Gegenstände ihrer alltäglichen Bestimmung. Wer sich auf den eigensinnigen Hintersinn seiner Arbeiten einlässt, in denen eine unscheinbare Wolke eine Kerbe in einen Baumstamm schlagen kann oder ein Paketband sich selbst am Boden festklebt, der wird für einen Augenblick die Welt um sich herum anders sehen – weniger banal, weniger schlüssig, weniger eindeutig.
Andrei Hâncu ist in Russland geboren, in Moldawien aufgewachsen und lebt seit 2015 in München. Anregungen und Vorlagen für seine Bilder findet er vorwiegend im Internet. Oft ist es die bestimmte Sequenz eines Comics oder Zeichentrickfilms, die seine Aufmerksamkeit fesselt. Immer ist er auf der Suche nach jenem besonderen Moment, in dem eine ganze Geschichte eingefroren scheint. Nach jener Szene, die das Zeug dazu hat, von Hâncu ihrer Protagonisten beraubt zu werden. Dabei ist es nur konsequent, dass der erzählte Inhalt den Künstler nur am Rande interessiert. Für ihn ist der Augenblick der Stagnation entscheidend – sich ein Davor und ein Danach auszumalen, überlässt er dem Betrachter.
Frei von jeglichem Narrativ sind nach allgemeinem Verständnis handelsübliche Kartonnagen, und doch bilden Kartons aller Form und Größe einen weiteren Schwerpunkt in der Arbeit von Andrei Hâncu. Auf die Frage warum antwortet er lakonisch: »Since I could choose anything as a subject, I decided to rely on something unnecessary and simple, something to which I wouldn’t be attached to. In a way, it’s a quite desperate choice, however funny it might seem.« Auch in dieser Serie isolierter Objekte, denen nichts Szenisches anhaftet, kommt ein surreales Moment zum Tragen, das die Bilder vor jeglicher Banalität bewahrt.
Systematisch durchsucht er im Netz die Überfülle von Abbildungen verschiedenster Modelle von Kisten und Kartons, bis eine einzelne Abbildung heraussticht. Sei es durch das, was sie dem aufmerksamen Betrachter erzählt, durch eine spezifische Anordnung von geschlossenen Flächen und offenem Raum oder durch irgendeine, kaum merkliche Besonderheit, die es lohnt, genauer hinzusehen. Hâncu erklärt: »For a long time I couldn’t decide whether to blindly paint boxes, as if documenting them in a huge quantity, thereby referring to the process itself as the main work, or to select only specific images, emphasizing the properties of each image individually. I decided to opt for the second option, examining each image I found, giving attention to the material on which the work would be done.«
Dass seine Serie der »Boxes« in der Corona-Zeit entsteht, in der der Versandhandel mit seiner Flut an Verpackungen omnipräsent ist, mag kein Zufall sein, doch im Vordergrund steht dieser Gedanke nicht. Auch nicht die Auseinandersetzung mit anderen Künstlern, die mit Kartons als Material oder Motiv arbeiten. Es sind die unendliche Multiplizierbarkeit des Motivs, die Variationsfülle und die Suche nach etwas »Wertvollem« inmitten der dem Bildgegenstand innewohnenden Belanglosigkeit, die Hâncu herausfordern: »It was the idea of selecting graphics of boxes from the Internet, as a kind of reaction to their endless choice, as indeed to the endless choice of anything.« Und kaum nimmt er sich dieser Schachteln an, öffnet sich auch schon ihr sprichwörtlicher doppelter Boden: Nichts, aber auch gar nichts, wird in diesen Kisten geschützt, gestapelt, transportiert oder verwahrt und damit fehlen auch dieser Serie im übertragenen Sinn die Protagonisten. Vielmehr katapultiert Hâncu uns selbst hinein ins dunkle Innere eines solchen Kartons und öffnet uns als Belohnung für diese denkbar ungewohnte Perspektive den Blick hinauf in einen ungetrübten, weiß-blauen, vielleicht bayrischen Himmel.
Anuschka Koos