Leontine Köhn + Tamy Plank: bis einer weint

Songs zwischen Mozart, Madonna und Marilyn Manson

24. August – 9. September 2021

Leontine Köhn + Tamy Plank - bis einer weint

CD-Cover, Foto: Valentin Plank

Flexible Music

12.15 Uhr. Ich sitze mit einem doppelten Espresso in der Hotel-Lobby des Vier Jahreszeiten, München. Der Interview-Termin mit »bis einer weint«, war auf 12.00 Uhr angesetzt. Mit Blick nach draußen stelle ich mir vor, wie Jeff Koons und Cicciolina mit einem schnellen Wagen durch die Maximilianstraße sausen, abrupt bremsen, von Hotelboys vor dem prominenten Eingang abgefangen werden. 12.28 Uhr werde ich aus meinen Träumereien von einem platinblonden, groß gewachsenen Mann gerissen, der sich (etwas zu laut) als »Jürgen« vorstellt. »They will arrive every moment. Yesterday was a long long night. 
I have to excuse the messy look …«

Kurz darauf höre ich das Klacken hoher Absätze, gefolgt von einem Raunen, das durch die Halle geht. Zwei junge Frauen – weiße Outfits, Cowboystiefel – schreiten langsam, fast päpstlich auf uns zu. »Girls, hurry up« raunt Jürgen mit einem Augenzwinkern. Onti Z. setzt sich und zündet eine Zigarette an. Sie rauchen Parisienne. »Für die tiefe Stimme«, flüstert sie. Jesta Wire wirft einen unauffälligen Blick auf die Uhr. 12:32. »Let’s start girls, we have a very important appointment this afternoon.« Kurzes Nicken gen Himmel, ich starte.

G.G. »bis einer weint« – warum seid ihr Musikerinnen geworden?

J.W. Musikerin zu sein, ist ein vorprogrammierter Zustand, kein Beruf. Kurz nach unserem Kennenlernen in L.A. 2015, haben wir an einer Studie teilgenommen. Anhand derer konnten wir zweifelsfrei beweisen, dass unsere Gehirne anders arbeiten: sämtliche Areale unserer Hirne leuchteten gleichzeitig auf. Damit hatten wir keine andere Wahl als uns der Musik zu widmen. »bis einer weint« ist ein Künstlerinnen-Kollektiv – das ist wissenschaftlich erwiesen.

G.G. Im Frühsommer erschien euer 
neues Album »Terrarium TV«. Wie seid 
ihr auf diesen Titel gekommen?

O.Z. Ob als imaginäres oder reales Setting, als konkreter Schauplatz intimer sozialer Handlungen oder Metapher – das Terrarium tritt in unserem Album in seinem Potenzial zu Tage, den gesellschaftlichen und politischen Zeitgeist zu reflektieren und zu verändern.

J.W. Wir setzen uns in unserer Musik intensiv mit der Grenze zwischen unserem Inneren und unserem Äußeren, sowie mit den wesentlichen Bedingungen des Menschseins auseinander.

G.G. Würdet ihr eurer Musik auch eine heilende Wirkung zusprechen?

J.W. Naja, es gibt doch immer Blickwinkel zu ergänzen? Oder nen weiteren Aspekt zu berücksichtigen. Fragmente, Überreste, Leerstellen, Fetzen und Passagen verweisen in der Musik nicht mehr auf ein mögliches Ganzes, sondern auf die wütende zerstörerische und zugleich schöpferische Kraft von Brüchen.

G.G. Was wollt ihr mit euren Stücken bei den Hörern auslösen?

O.Z. Freude, Begeisterung, Ärger, Abscheu, Traurigkeit sowie unzählige weitere emotionale Reaktionen. Es ist uns wichtig, flexibel zu bleiben, bei allem was wir machen. Flexibilität ist für uns ein Zeichen der Freiheit und Inklusion.

J.W. Flexible music ist ein progressives Genre, es bedeutet eine Fusion aller Genres. Es kann alles, muss nichts. Manche behaupten, wir befinden uns zwischen Mozart, Madonna und Marilyn Manson.

G.G. Was ist der perfekte Zeitpunkt und Ort, um eure Musik zu hören?

O.Z. Perfekter Zustand, perfekter Zustand … Gibt es sowas überhaupt?

J.W. Naja, so wie die Wahl des Ortes und verschiedensten Bedingungen und Faktoren auf den Entstehungsprozess der Musik Einfluss nehmen, so bestimmen auch permanent wechselnde Blickrichtungen und unvorhersehbare Ereignisse den Wahrnehmungsprozess. Der Titel unseres Debüt-Songs »Hart am painten« lässt sich in diesem Sinne als Verweis auf die immer gegebene Komplexität und Unberechenbarkeit einer Situation lesen; einer Situation, in der wir ein Werk schaffen, wie einer Situation, in der Zuhörerinnen das Werk erfahren. So kann es unkalkulierbare Momente, Geschehnisse oder auch blinde Flecken geben, die das Ergebnis einer Handlung mitbestimmen, die für eine Situation ausschlaggebend sind. Nicht alle Folgen einer Handlung und nicht alle Aspekte einer herbeigeführten Situation lassen sich vorhersehen, und doch ist die Verantwortung dafür zu übernehmen.

G.G. Könnt ihr mir noch etwas über euren Schaffensprozess verraten?

O.Z. Unsere Musik wird durch die Verwendung alltäglicher Materialien geprägt und spiegelt die Produktions-
bedingungen in einer postmodernen, postglobalen Gesellschaft wider. Dabei kommt das einer künstlerischen Reflexion gleich, die sich aus einer analytischen Sicht auf die unmittelbare Umgebung und aus philosophischen Fragen speist.

J.W. In unserem Schaffensprozess liegt der Fokus darauf, eine künstlerische Sprache zu finden, die ihrer eigenen Logik und ihrem eigenen künstlerischen Impuls folgt. Also prozessorientiert und nicht elitär ist. Als einer der führenden Pioniere der Musik und eines innovativen künstlerisch-experimentellen Ansatzes denken wir tradierte Vorstellungen von Raum, Zeit, Form und sozialer Interaktion neu.

G.G. Wie funktioniert eure Musik in diesen Zeiten und was beschäftigt und inspiriert euch im Moment?

O.Z. Unsere Songs schwingen sich auf, um inmitten dieser turbulenten Zeiten der komplizierten Schönheit des Lebens Gestalt zu geben. Als Künstlerinnen performativer Aktionen greifen wir auf kulturelle Objekte und Erinnerungen zurück, die beeinflussen, wie unsere Körper in der Welt und miteinander agieren.
In unseren aktuellen Songs beschäftigen wir uns mit verschiedenen Musikerinnen-Persönlichkeiten und deren Arbeit. Uns interessiert der Einfluss der »Überreste« ihrer Arbeit auf die zeitgenössische Musikproduktion, Einrichtungen und den Mainstream. Wir fragen uns, ob die Verschmelzung dieser Einflüsse und Erfahrungen möglicherweise in ihrer Summe zu einem »ultimativen Produkt / Künstlerin« führen kann.

J.W. Also eine autonome, artifizielle Entität, die als Ganzes mehr ist, als die Summe ihrer Teile. Unsere Musik ist der Versuch einer solchen Fusion durch das Austarieren von Musical Appropriation.

G.G. Darf ich noch nach eurem nächsten Projekt fragen?

J.W. Klar! Ein alter Freund, Claus Blume – vielleicht kennst du ihn unter Claubl … naja … also der Claubl hatte einen genialen Plattenladen Ende der 90er in Haidhausen in der Milchstraße. Da ist die Münchner Szene ein- und ausspaziert. Der Claubl hatte alles, was man brauchte. Angesagte Musik, experimentelleres Zeug, kalte Getränke, Kaffee und Fluppen.

O.Z. Um 2006 ging es bergab. Die Freundin hat ihn sitzen lassen, alle wollten nur noch CDs. Da hat er den Laden geschlossen. Wir vermuten Virginie Despentes hat sich für ihren Vernon Subutex von ihm inspirieren lassen.

J.W. Kurz: Er macht wieder auf. Nach 15 Jahren kommt der Vinyl Store zurück. Es wird ein großes Re-Opening Ende August geben. Im Laden kann man natürlich auch unsere Platten erwerben. Ne Autogrammstunde wirds auch geben. Ansonsten haben wir einen kleinen Gig in Bad Jungbrunn geplant.

O.Z. Wir werden erst mal viel Zeit im Studio verbringen, das neue Album vorantreiben.

Jesta Wire, *1990 in Dachau, Modern and Medieval Languages Bachelor an der University of Cambridge, Floor Associate im Vinylparadise »Amoeba Music« in L.A., 
mittlerweile lebt und arbeitet Jesta mit Onti Z. auf der Île de Ré.

Onti Z., *1994 in Bonn, International Finance Studium an der HEC Paris, nach einem längerem Aufenthalt in Asheville, North Carolina bei einem Onkel (ehemaliger Student am Black Mountain College), Umzug nach L.A., wo sie Jesta Wire kennenlernte.

Jesta Wire und Onti Z. trafen sich im Sommer 2015 am Sunset Boulevard (L.A.), als beide Blumen für Jayne Mansfield vor den Pink Palace legen wollten. Aus einem zufälligen Zusammentreffen und einem Faible für Musik wurde eine enge Freundschaft. 2016 gründeten sie die Band »bis einer weint«. Sie haben eine Deutschland-, Europa-, Südamerika- und schließlich eine Welttournee hinter sich. »bis einer weint« ist eine der gefragtesten Bands, welche durch ihre experimentelle Herangehensweise breite Teile der Gesellschaft begeistert. 2020 / 21 brachte die Band zehn neue Alben heraus, was ein enorm hohes Maß an Produktivität beweist und erstaunlicherweise nicht dazu geführt hat, dass die Qualität nachließ.

Gwendolyn Geier, *1976 in Zürich, ist seit 2004 als Musikjournalistin beim Magazin »Rolling Stone« und ist Leiterin der »flexible music«-Redaktion.

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